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  Geschichten aus dem Kopf     =  Erzähltes,  Fiktionales,  Prosa

   Celans Treppe

   - ein später Nachruf

 

Dann und wann tauchte sie vor mir auf. Sie ist hier kilometer-weit die einzige. Gleich hinter der nächsten Brücke steigt sie vom Trottoir die steil aufragenden Kaimauer herab - bis zu den schon faulenden, längst eingeteerten Wurzeln der schon vor Jahrzehnten gefällten und vergessenen Uferbäume. Auf den ausgetretenen Steinplatten unter dem Port de Javel haben sich flache Pfützen gebildet. Selbst hier spiegeln sie einen Teil des leuchtenden Himmels.

Nie aber scheint in meinem Traum die Sonne. Ein fellgraues Laken ist der Himmel, und unter ihm ziehen zäh bizarre Wolkengebilde. Das alles ohne Düsternis.

Ein Stück weiter wenden die Boote der Vedettes, auf denen Japaner, Amerikaner, Deutsche immer die gleichen Fotos schießen werden, auch hier, am Pont Mirabeau, der heute seinen schwarzen Schatten sanft aufs milchige Wasser legt. Drüben, am anderen Ufer, treffen sich unter den Boulevard-Schildern täglich die Herren Citroën und Zola, reden früh morgens schon über Löhne und Geschäfte und überhaupt die moderne Zeit. Die Luft geht frisch. Ein kleines Feuer – ohne Sicht auf den labilen Kartonverschlag eines Stadtstreichers. In dieser Gegend liegt man nicht herum, vermummt gegen die Kälte und lässt die Flaschen kreisen. Denn hier ist schon das Abseits, hier beobachtet und beachtet niemand niemanden. Kein verlauster Obdachloser oder ehemals Gefangener, Entkommener, kein Säufer hinter seinem eiernden Einkaufswagen voller Plastiktüten, vollgestopft mit Lumpen, Flaschen und anderen Überlebensstrategien. Ein Ufer ohne Publikum. Manchmal sehe ich hier ein Liebespaar – wie auf einer sepiabraunen Photographie aus den 20er Jahren.

Eigentlich sehe ich anfangs immer nur dies: Eine monochrome Photographie, vergilbt. Das Bild eines Paars - offenbar verliebt, als würde das Leben neu beginnen. Es ist Frühling; und alles noch kahl, feucht und farblos. Aber da ist auch ein Wuchern und Zischen über dem Wasser. Und oben, hinter der steinernen Brüstung, die noch nie Bouquinistenkästen trug, lärmt ein Verkehr, als wäre nicht Sonntag. Es muss aber Sonntag sein. Denn heute haben sie ihn gefunden. Nicht in diesem Abschnitt, weiter draußen am Rande der Stadt, nach einer fernen Windung der mäandernden Seine.

Davor war ein Freitag, in Courbevoie, das keiner kennt. Das sich auch nicht für den interessiert, der da hochkommt von so weit her - als läge Paris, als läge Tel Aviv, als lägen Stuttgart, Bukarest, Czernowitz am Ende der Welt. Von Steilhang zu Steilhang getrieben, geduckt und flüchtig, so fasst ihn mein Auge, ihn den Dichter, sich drehend auf zerbrechlicher Achse, verloren im Brunnen seines eigenen Herzens, zerheilt, wie er es selbst nennt, nicht mehr sterbend, und dennoch begleitet vom eigenen Atem.

Oben muss er durch den Verkehr gerannt sein, den Boulevard entlang quer über den Quai auf die Lücke in der flachen Mauer zu. Von dort sieht der Fluss aus, als trüge er ihn – trüge ihn, wohin auch immer. Ein Fluss kann ein Schoß sein, sanft und dschungelwarm - er wird ihn aufnehmen in seinem Wiegegang, wird ihm den Mund und die Augen mit Tränen, Moder, Nähe füllen, endlich; wird ihm versichern, er sei nicht ein Rhein, ein deutscher. Der Wind wird sich gitanes- und kloakenduftend über seiner vollgesogenen Seele kräuseln, sich in sein Ohr legen.

Es ist April im Jahr 1970. Ostwind, sagt der Wetterbericht für Paris und zu kalt für die Jahreszeit. Aber es ist der Monat, wo auf dem Square Pablo Casals schon die ersten Knospen platzten in kristallklarer Morgendämmerung. Du aber, weiß ich, während die Hämmer schwingen, schweigst. Wir fragen warum – wir müssen es wissen. I c h  muss es wissen. - Warum?

Und ihr ginget selbdritt durch den Abend, antwortest du mir. Wer ihr? wer denn mit dir? wenn du nicht du und allein? Die, die du liebtest waren nicht mit dir, verfolgten dich nicht. Zaghafte Gräser zwischen den Quadern damals – nun wuchert das Unkraut. Lautlos schwappt das ölige Flusswasser ans Mauerwerk, leckt an der Treppe. Haben die Lastkähne zu viel Fahrt, spritzt es hoch, bis zu mir. Ein wenig Nahrung für das Grün in den Ritzen. Das wuchert; so kann man nicht durchsehen: nicht durch die Steine, nicht durch ihre Fugen; auch nicht durch den ockerfarbenen Strom, der an mir vorüberzieht. Der Himmel nur, der graue, ist besänftigend leer. Kein dramatisches Blau mit barockem Wolkenwirbel; ein Tuch ist er, glatt und leicht.

Er war die Stufen hinabgestiegen. Kein Zögern. Er hatte sich nicht einmal umgesehen, hatte nicht nach dem Liebespaar geschaut - das oben an der Quai-Mauer stand, eine Unendlichkeit weg in seiner Umarmung. - Ilana, wo bist du? - Hattest auf niemanden gewartet. War auch niemand gekommen. Ein Lastkahn trieb hinab in aller Eile. Da legte der Blinde den Arm auch um dich: Und du gingst zur Kante und sprangst.

Ich schau über die Wasserlinie, über die Strudel, über diese schwere, gleichgültige Flut. Mir gegenüber liegt zu dieser Stunde das 16te, die schöne, arrogante Richterin. Die Place de Barcelone, Radio France; l‘Avenue de Versaille, aber kein Justizpalast, jenseits des Pont, kein Dom für die berühmten Söhne. Nirgends ein Bahnhof - es sei denn du stiegest hinab.

Hinab willst du. Ins verlorene Reich der Exilierten – ein König, mutterlos und ohne Lakaien. Bis hier hinauf hört man das Rollen der Waggons, ein Pfeifen, Befehle, das Signal der Lok. Woher das Kreischen der anfahrenden silbrigen Räder, wohin das Ächzen der rostbraunen Waggons? Abwärts in die Stille, zu den Unvergessbaren. Ein Sprung, ein lautloser Kampf im Ersticken noch und - mein Gott! - die Unmöglichkeit zu schreien.

Aufsteigt die Schwärze, und da sind sie wieder die Hämmer, frei schwingend in seinem Innern, das ein Quai war, ein Bahnhof wird, ein himmlisches Lager. Waggons und Hämmer, Schienen und der Tunnel hinüber. Maschinisten stöhnen ihm ins Ohr und schlagen verzweifelt auf die Kupplungen ein, dass sie fester greifen und nicht loslassen vom anderen. Das Sausen draußen, im Innern Gemurmel. Gut verschlossen und verriegelt ziehen sie davon auf  kreischendem Gleis. Zwischen den Ritzen Blicke, damals wie heute.

So stießest du, der Getriebene, zu mir – und ich habe dich angenommen und mit mir genommen und kann dich nicht mehr loswerden - auf keiner Verladestation. Immer noch sehe ich die Treppe, die tief hinabführt ins eisige Geschiebe. Ich sehe die Quais und die eisernen Ringe, an denen keine Boote mehr festmachen. Ich sehe auch die Liebenden, bewegungslos im Zentrum einer Photographie, die im Wind über die leeren steinernen Ufer tanzt.

Und dich. Weit draußen vor der Stadt treibst du dahin und suchtest das Meer.

Mit Haken haben sie dich herausgezogen, wie eine versoffene Katze, hat dich obduziert und in einen Aluminium-Container gepackt, gesichert für ein anderes Grab, das Loch neben deinem Sohn. Da ist es zum Ersticken dunkel; dorthin wolltest du nicht, zum Gewürm – rosa und gefräßig. Du suchtest den Ort, wo niemand dich kennt. Unauffindbar verschollen.

Autos hupen. Weiter, eile. Paris lärmt; ich müsste es hören - jedoch ich stelle mich taub. Nein, sage ich, die Glocken bleiben ja stumm. Jetzt, nur diese Sekunden, bitte! Ich senke den Blick und betrachte die dünnen Triebe zwischen den Quadern: Unkraut, zitternd unter einer schwachen Bö, zeichenlos; doch die Steine erzählen. Berichten von dem, was sie sahen und von dem, der sie berührte mit dem Luftzug seines Sprungs, dem, der endlich nach Hause wollte, mit diesem Strohm, dorthin, wo alle Flüsse enden und wieder beginnen.

Berichten von den Liebenden, die sich, als ihre Mittagspause zu Ende ging, aus ihrem Einssein lösten, sich trennten, als wäre niemand gesprungen. Berichten vom Dichter, vom vor Wunden Flüggen, von seinem Leser, der sich nicht abwenden kann, nicht von ihm, nicht vom Wasser, von diesem Quai, von dieser Treppe, die hinabgeht in die Nacht des Pont Mirabeau; die zum Fluss führt, zum Nichtvergessen.

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